Aus: Boës/Hesse (Hrsg.): Güterverkehr in der Region, Metropolis, Marburg 1996

von Hans Boës

1. Masse Mensch

Je Bundesbürger werden ca. 150 kg Güter täglich transportiert und zwar im Durchschnitt 87 km weit. Und dies nur nach der offiziellen Güterstatistik – in Wirklichkeit ist es noch wesentlich mehr: Je Bürger werden beispielsweise täglich etwa 2000 l Wasser gewonnen, davon müssen nach Gebrauch etwa 500 l als Abwasser behandelt werden. Das entspicht etwa der Menge mehrerer Badewannen. Und das täglich für jeden einzelnen von uns, vom Kleinkind bis zum Greis.

Wenn man bedenkt, welch ungeheure Mengen an Stoffflüssen notwendig sind, nur um uns letztendlich zu versorgen (also vor allem zu nähren und zu kleiden), dann kann man vielleicht in etwa erahnen, wie ineffektiv unser heutiges Wirtschaftssystem arbeitet – insbesondere unter ökologischen Aspekten. Am Beispiel Wasser wird es besonders deutlich: 2000 Liter Wasser je Kopf und Tag, die dem Kreislauf der Natur zu fast drei Vierteln entnommen werden, nur um die bei der Stromproduktion anfallende Wärme wegzukühlen anstatt damit Häuser zu heizen. 150 l Wasser werden täglich in Trinkwasserqualität gewonnen. Während jeder doch nur etwa 1,5 Liter Wasser am Tag wirklich trinken kann.

Aber nicht nur im Bereich der Wasserverwendung ließe sich sicher effektiver arbeiten, sondern auch im Bereich der Güterversorgung. 150 kg je Kopf und Tag sind fast 55 t im Jahr je Bürger. Jährlich werden pro Kopf 25 t Steine und Erden, 7 t Fahrzeuge, Maschinen, Halb- und Fertigwaren, 4,5 t chemische Erzeugnisse, 4,4 t Nahrungs- und Futtermittel, 3 t Mineralölerzeugnisse, 2,5 t landwirtschaftliche Erzeugnisse, 2,3 t Eisen und Stahl, 2,3 t Kohle, 1,5 t Erze, 1 t Erdöl und 320 kg Düngemittel transportiert – also auch hergestellt, verkauft, verbraucht und entsorgt. Welche enormen Mengen an Abraum, Abfall und Abwasser dahinter stehen, kann man nur schätzen.

Beispiel Papier: Alleine zur Herstellung einer Tonne Papier oder Pappe werden 100 Tonnen Material verwendet (Liedtke 1993). Der Pro-Kopf-Verbrauch an Papier beträgt in Deutschland etwa 200 kg im Jahr. Das heißt, jeder Deutsche trägt alleine durch seinen Papierverbrauch dazu bei, daß durchschnittlich 20 t Umweltressourcen verbraucht werden. Und das jedes Jahr, Tendenz steigend. Bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von ungefähr 75 Jahren bedeutet dies die astronomische Summe von 1.500 Tonnen Umweltressourcen, die ein durchschnittlicher Bundesbürger im Laufe seines Lebens nur durch den Papierkonsum verbraucht. Das entspricht praktisch einem vollbeladenen Güterzug. Das alles nur für 200 kg Papier im Jahr?

Auch wenn das Beispiel Papierherstellung und -verbrauch sicherlich ein Extrembeispiel darstellt, so kann davon ausgegangen werden, daß hinter jedem Kilo, welches in der offiziellen Güterstatistik aufgeführt wird, noch einmal mindestens 1 Kilo Materialbewegung und -transport stehen, die in der Statistik nicht erfasst werden, aber dennoch äußerst umweltrelevant sind. So hat das Wuppertal-Institut errechnet, daß zu den 350 Mio. t, die die offizielle Güterstatistik je Kopf und Jahr für die Bundesrepublik aufweist, noch einmal 2,8 Mrd. t Aushub und nicht verwertete Rohstoffe hinzukommen, weiterhin etwa 1,4 Mrd. t Rohstoffe, die nur zu etwa 20 % in der Statistik erfasst werden. Man kann also getrost davon ausgehen, daß zu den 150 kg der offiziellen Statistik noch einmal mindestens150 kg Abraum und Rohstoffe hinzu kommen, die der Natur entnommen und dann verbraucht bzw. einfach wieder abgekippt werden. Mit anderen Worten: Das Gesamtsystem Volkswirtschaft “verbraucht” je Kopf etwa 300 kg Erdmaterial, 2000 kg Wasser (davon 500 kg als Abwasser) sowie ca. 32 kg Luft am Tag, nur um einen Menschen zu versorgen, zu kleiden und nähren – eben am Leben zu erhalten. Rechnet man nur die reineAbwassermenge, die Materialbewegungen und den tatsächlichen Luftverbrauch (näherungsweise die Menge des verbrannten Sauerstoffs), benötigt unser Industriesystem täglich mehr als das Zehnfache des durchschnittlichen Gewichts eines Menschen an Material-, Luft- und Wasserbewegungen, nur um ihn am Leben zu halten. Im Laufe seines Lebens sorgt so ein bundesdeutscher Mensch dafür, daß etwa das 300.000fache seines eigenen Gewichts an Biomasse verändert und beeinflusst wird. Ein derartiges System scheint mir in der Geschichte der Bioshäre beispiellos und hat langfristig wohl kaum dauerhafte Überlebenschancen.

Vor diesem Hintergrund scheint es unbedingt erforderlich, die anstehenden Probleme nicht nur durch technische Optimierung lösen zu wollen, sondern uns mit der Frage auseinanderzusetzen, ob neben einer enormen Anstrengung zur Effizienzsteigerung der eingesetzten Technologien nicht auch eine Veränderung des Lebensstils in der heutigen “Wegwerfgesellschaft” und damit ein schonenderer Umgang mit Natur-Ressourcen erforderlich ist.

2. Let it be

Beschäftigt man sich in Anbetracht der bedrohlichen Situation für Klima und Mensch etwas eingehender mit dem Prinzip der Verkehrsvermeidung, stößt man zwangsläufig auf den 2. Hauptsatz der Thermodynamik. Dieser besagt, daß in abgeschlossenen Räumen jeder Aufwand, jede Bewegung nur zu einer Erhöhung der Gesamtentropie führt. Letztendlich also zu einer Erhöhung der Unordnung bzw. Gleichverteilung. Unsere Bioshäre ist praktisch ein solches abgeschlossenes System und die Zunahme der Gesamtentropie können wir täglich an der bedrohlichen Vergiftung unserer Umwelt erfahren. Der 2. Hauptsatz ist nach seiner Entdeckung oft als Ursache für den befürchteten “Wärmetod” mißinterpretiert worden. Tatsächlich ist es aber eher der “Emissionstod” der uns offensichtlich bedroht, wenn wir die stoffliche Dimension des 2. Hauptsatzes in Zukunft nicht berücksichtigen. Denn im Gegensatz zur Wärme, die unserem Planeten durchaus entflieht (sogenannte Dissipationswärme), können Stoffe die Biospäre praktisch nicht verlassen. So bewirkt der 2. Hauptsatz zwar inzwischen tatsächlich eine Erwärmung der Erde, aber eben über den Umweg der stofflichen CO2 – Emissionen. Wahrscheinlich ist die Berücksichtigung der stofflichen Dimension des 2. Hauptsatzes eine der wichtigsten Randbedingung für eine zukunftsfähige, also letztlich dauerhafte (sustainable) Gesellschaft.

Es gibt zwei Auswege aus dem (hier sehr verkürzt und vereinfacht beschriebenen) Dilemma des 2. Hauptsatzes. Der eine ist die Gewinnung von regenerativen Energien. Wenn es uns gelingt, die Energien der Sonne zu nutzen, um uns fortzubewegen oder Dinge zu produzieren, zu transportieren und zu verwerten, schlagen wir dem 2. Hauptsatz ein Schnippchen: Die Zunahme der Gesamtentropie geschieht dann in der Sonne. Auf die Erde kommt nur die reine Energie (quasi Neg-Entropie), die wir dann emissionsfrei nutzen könnten – so wie die Natur das tut, ohne dabei Abfall zu erzeugen oder sich selbst zu vergiften!

Der zweite Ausweg ist noch viel einfacher: “Nichts tun”. Wer Dinge nicht bewegt, seinen Aufwand minimiert, der reduziert auch die Schadstoffe, seinen Müll, seine Emissionen. So folgt aus dem 2. Hauptsatz der Thermodynamik der 1. Hauptsatz des ökologischen Strukturwandels: “Let it be” – als ökologischer Imperativ. Das heißt, wir müssen eine Lebensform finden, die uns zu materiellem Wohlstand bei deutlich reduziertem Ressourcenverbrauch führt. Und das bedeutet vor allem: dauerhafte Produkte die nicht nach wenigen Jahren gleich wieder auf dem Müll landen sondern in eine Kreislaufwirtschaft integriert sind. Das heißt aber auch, wir müssen lernen mit diesen Produkten anders umzugehen. Ich glaube vor allem, wir müssen lernen zufriedener zu sein, mit dem was wir haben.

Erst die Kombination von regenerativer Energieversorgung und einer genügsameren und damit ressourcensparenden Lebens- und Wirtschaftsweise wird zu einer umwelt- und damit zukunftsverträglichen Gesellschaft führen. Denn wenn man bedenkt, daß täglich mehr als das Zehnfache des Gewichts eines Menschen bewegt wird, man jedoch weniger als 1% davon wirklich benötigt um sich zu versorgen, kann man in etwa ermessen, welch ungeheures Einsparpotential für eine umfassende Effizienz- und Suffizienzrevolution in der heutigen Industrie- und Konsumgesellschaft steckt.

3. Die “Sanfte Entschleunigung”

Nicht nur die Zunahme des Güterverkehrs ist ein Problem, das unaufhaltsame Wachstum des weltweiten Wohlstandes selbst stellt eine Bedrohung für das Überleben des Planeten dar. Gerade werden in China für mehrere Millarden deutsche Autofabriken und Kohlekraftwerke projektiert. Dies werden nicht die letzten Autofabriken und Kraftwerke sein, die in China in den kommenden Jahren gebaut werden. Die Folge des wirtschaftlichen Aufschwungs nicht nur Chinas wird eine Zunahme der weltweiten CO2-Emissionen gigantischen Ausmaßes sein. Wenn erst jeder zweite Chinese ein Auto besitzt, das letztendlich nur etwa 1 % der eingesetzten Energie auch tatsächlich zur Fortbewegung der Personen nutzt und sein Haus mit elektrischem Licht beleuchtet, das etwa 2 % der eingesetzten Energie wirklich in Licht verwandelt, wird sich die weltweite CO2-Emission selbst dann verdoppelt haben, wenn leicht verbesserte Technologien verwendet werden sollten (wie bspw. das Drei-Liter-Auto). Denn neben China steht ganz Südostasien, stehen Süd- und Mittelamerika, große Teile Afrikas sowie die Staaten Osteuropas an der Schwelle zur hochentwickelten Industriegesellschaft – etwa unseren Wirtschaftswunderjahren vergleichbar.

Das heißt, in den kommenden höchstens 1 – 2 Generationen werden alle Menschen dieser Erde nicht nur so leben wollen wie wir – sie werden es einfach tun.

Daß diese Entwicklung früher oder später zu einer dramatischen Klimaverschiebung führen wird, ist schon lange eine Binsenweisheit. Daß dieser Prozeß jetzt tatsächlich in Gang kommt, spüren in Europa die Holländer und Spanier als erste. Und daß der Prozeß einer Klimaverschiebung – erst einmal in Gang gesetzt -, vielleicht jahrhundertelange Folgen haben könnte, sagen uns die Klimaforscher deutlich genug. Es sei denn, wir beginnen sofort mit einer wirklichen Effizienzrevolution und exportieren nur noch effiziente und dauerhafte Produkte und Verfahren.

Das eigentlich erschreckende an der derzeitigen Situation ist: alle wissen, daß es so nicht weitergehen kann – doch niemand fühlt sich so recht verantwortlich. Und es fehlt der heutigen Generation von Entscheidungsträgern nach meiner Erfahrung offensichtlich an der notwendigen Phantasie, sich eine regenerativ betriebene nachindustrielle Gesellschaft überhaupt vorzustellen. In der Welt des “schneller, höher, weiter” hat die Langsamkeit keinen Platz. In der Entdeckung der Langsamkeit aber, der “Sanften Entschleunigung” der Industriegesellschaft, liegt meines Erachtens der Schlüssel zu einer regenerativen Zukunft.

Beim Güterverkehr wird die Situation besonders unverständlich. Keine Partei, die nicht für eine Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene öffentlich eintreten würde. Im Grunde gibt es eine vollkommene Übereinstimmung bei allen gesellschaftlichen Gruppierungen, daß der Güterverkehr weitestmöglich auf die Schiene verlagert werden sollte. Selbst der ADAC wäre für ein großangelegtes Forschungsprogramm “Güter auf die Schiene” zu gewinnen. Tatsächlich wächst die LKW-Lawine jedoch täglich weiter. Tatsächlich verliert die Schiene jedes Jahr weiter Anteile am Güterverkehrsmarkt.

Das alarmierende an diesem offensichtlichen Unvermögen des politischen und gesellschaftlichen Steuerungssystems, die Grundlagen unseres Lebensraumes zu erhalten ist, daß weitaus komplexere Probleme als die Verlagerung des Güterverkehrs -über die bei weitem nicht ein vergleichbarer gesellschaftlicher Konsens besteht – in den nächsten Jahren auf uns zukommen werden. Wenn jedoch schon das vergleichsweise “kleine” Problem einer Verlagerung des Güterverkehrs auf die Schiene mehr als 20 Jahre braucht, um von den Stammtischen in die Ausschüsse zu gelangen, wie soll dann der gesamte ökologische Umbau der Gesellschaft innerhalb der nächsten Generation gelingen?

Literatur

Bach, Wilfried.: Notwendige Schritte in eine zukunftsfähige Welt, in: Zukünfte Nr. 11 (3/95), S. 13 – 17.

Koch, Gisbert: Der deutsche Bürger und seine Stoffflüsse, unveröffentlichte Arbeitspapiere, Sekretariat für Zukunftsforschung, Gelsenkirchen 1993.

Liedtke, Christa: Material intensity of paper and board production in Western Europe, in : Fresenius Environmental Bulletin, Vol. 2, Nr. 8 (1993), S. 461 – 466.

Schmidt-Bleek, Friedrich: Wieviel Umwelt braucht der Mensch? Berlin, Basel, Boston 1993.

(c) Hans Boës 1995